Das Moralstufensystem nach Kohlberg

Einleitung

Lawrence Kohlberg (1927 - 1987), Psychologe und Professor für Erziehungswissenschaft an der Harvard University hat auf der Basis der Theorie der kognitiven Entwicklung von Jean Piaget ein System von sieben Moralstufen ausgearbeitet, das eine Messung des Grades an moralischer Reife eines Menschen erlauben soll. Dabei werden nicht moralische Entscheide als solches beurteilt, sondern die Argumentation, die zu diesen Entscheiden geführt hat. Das Moralstufensystem nach Kohlberg gibt somit ein Mittel an die Hand, die moralische Reife von Argumenten in einem ethischen Diskurs zu messen und zu schulen (siehe dazu auch » Diskursethik).

Die sieben Stufen

1. Stufe: Die Orientierung an Strafe und Gehorsam

Ich tue, was man mir sagt – nicht aus Einsicht in die Notwendigkeit, sondern um nicht bestraft zu werden.

Rechtes Handeln bedeutet, Autoritäten zu gehorchen und Regeln einzuhalten, um Bestrafung zu vermeiden.

2. Stufe: Die instrumentell-relativistische Orientierung

Ich behandle andere so, wie sie mich behandeln und bleibe dabei fair.

Rechtes Handeln bedeutet, bei der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse im Sinne konkreter Tauschgeschäfte fair zu handeln (tit for tat): "Wie du mir, so ich dir", "ich gebe, damit du gibst".

3. Stufe: Die interpersonale Konkordanz-Orientierung

Ich tue, was innerhalb meiner Peer-Group als richtig angeschaut wird.

Rechtes Handeln bedeutet Loyalität und Zuverlässigkeit gegenüber Partnern. Man möchte den Erwartungen von Bezugspersonen und Autoritäten entsprechen (good boy/nice girl) und strebt dabei nach sozialer Anerkennung und Wertschätzung. Die 'Goldene Regel' ("Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu") gilt als Leitlinie für die eigenen Bezugspersonen, nicht jedoch für die Interessen fremder Gruppen.

4. Stufe: Die Orientierung an 'Law and Order'

Ich sehe die Notwendigkeit von Normen und Regeln und befolge sie.

Rechtes Handeln bedeutet, seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen. Moralische Normen und Regeln werden befolgt, da deren Bedeutung für das Aufrechterhalten der sozialen Ordnung und das Funktionieren der Gesellschaft erkannt wird. Die persönlichen Interessen der Mitmenschen werden dabei den Regeln und Gesetzen der Gruppe bzw. des Systems untergeordnet.

5. Stufe: Die Orientierung an einem Gesellschaftsvertrag

Ich tue, was mir aufgrund der Nützlichkeit für die Gesellschaft als einsichtig erscheint.

Feste moralische Normen werden hinterfragt. Der Mensch orientiert sich an der Idee des Gesellschaftsvertrags und übernimmt die Verantwortung für das eigene Handeln. Aus Einsicht in die Gerechtigkeit und Nützlichkeit für alle werden gut begründete Normen akzeptiert und als verbindlich angesehen, selbst wenn sie mit konkreten Regeln und Gesetzen der Gruppe in Konflikt geraten sollten. Als Leitlinie gilt "was allen dient, dient letztlich auch mir".

6. Stufe: Die Orientierung an universalen ethischen Prinzipien

Ich lege meinem Handeln die Achtung vor den Mitmenschen zugrunde.

Menschen handeln autonom, in moralischer Freiheit und nach ihrem Gewissen, wobei sie ihrem Handeln allgemeingültige Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Achtung vor der Menschenwürde zugrunde legen. Wenn Gesetze gegen diese Prinzipien verstossen, dann handelt man in Übereinstimmung mit dem Prinzip.

7. Stufe: Die kosmische Perspektive

Ich orientiere mich in meinem Handeln an universeller Liebe und Mitgefühl.

Das offizielle Stufenmodell geht bis zur 6. Stufe. Kohlberg hat jedoch eine 7. Stufe angedacht, in der sich das Individuum mit der kosmischen Perspektive identifiziert und erfüllt ist von universeller Liebe und Mitgefühl. Man kann dies als mystischen Zustand verstehen, wo der Mensch die Einheit des Ganzen und sich selbst als Teil dieser Einheit erfährt. Kohlberg zitiert als Beispiele Jesus, Buddha und Gandhi. Moralische Urteile werden auf dieser Stufe transzendental begründet.

Diskussion

Schwächen in der empirischen Verifikation

Am Ansatz von Kohlberg wurde verschiedentlich Kritik geübt. So wurden ihm z.B. Inkonsistenzen zwischen der Theorie und den empirisch gewonnenen Daten vorgeworfen.

Beschränkter Nutzen in Dilemmasituationen

Bei vielen ethischen Fragestellungen steht man vor dem Dilemma, dass alle Handlungsalternativen gravierende Nachteile aufweisen und man somit nur die Option hat, sich für das kleinere Übel zu entscheiden. Das Modell von Kohlberg ermöglicht zwar, die moralische Schlagkraft der einzelnen Argumente zu bewerten, in vielen Fällen wird ein Dilemma dadurch aber nicht einfacher zu lösen. Auch Personen, die auf Moralstufe 5 argumentieren, können nämlich in guten Treuen verschiedener Ansicht sein. Man argumentiert dann zwar auf einer hohen Moralstufe, kann aber eine ethische Fragestellung unter Umständen auch so nicht eindeutig beantworten.

Feminine Fürsorgemoral zu wenig berücksichtigt

Kohlberg arbeitete bei der empirischen Verifizierung seines Modells hauptsächlich mit männlichen Versuchspersonen. Studien mit gemischten Gruppen kamen später zum Ergebnis, dass Frauen im Durchschnitt auf einer tieferen Moralstufe argumentieren als Männer. Aus feministischer Sicht wurde die Stufentheorie deshalb für ihre einseitig westlich-maskuline Betrachtungsweise kritisiert und die Notwendigkeit hervorgehoben, das Modell durch eine feminine Fürsorgemoral zu ergänzen, die sich eher an der Qualität der Beziehung orientiert und soziales Engagement berücksichtigt.

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Version vom 10. April 2023

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