Diskursethik

Grundlagen

Sowohl ein rein deontologischer (Gebote und Verbote) als auch ein rein teleologischer Ansatz (Fokus auf die Folgen) können im Einzelfall zu ethisch fragwürdigen Entscheiden führen. Im deontologischen Ansatz werden die Folgen eines Entscheids unter Umständen zu wenig bedacht, im teleologischen Ansatz besteht die Gefahr, dass wichtige moralische Grundsätze ausgeblendet werden. Zudem krankt der teleologische Ansatz daran, dass es in einer säkularen und multikulturellen Gesellschaft keine allgemein akzeptierte Instanz gibt, die allgemeingültige Wertevorzugsregeln vorgeben könnte.

Als Alternative bietet sich die 'Diskursethik' an: Die Gesellschaft einigt sich in einem kontrollierten Verfahren (Diskurs) auf einen entsprechenden Konsens. Dabei wird vorausgesetzt, dass die am Diskurs teilnehmenden Personen die Vielfalt der Gesellschaft repräsentieren, ethische Prinzipien anerkennen sowie rationalen Argumenten und Lösungen gegenüber zugänglich sind.

Das » Moralstufensystem nach Kohlberg gibt ein Mittel an die Hand, die moralische Reife von Argumenten in diesem Diskurs zu messen und zu schulen.

Diskursethik in der Praxis

In Anbetracht des für einen diskursethischen Prozess notwendigen Zeit- und Ressourceneinsatzes wird in der Praxis für ein spezifisches Thema, z.B. für ethisch heikle Entscheide im Gesundheitswesen, eine interdisziplinär zusammengesetzte Ethikkommission gebildet. Im Idealfall repräsentiert ein solches Gremium die für den vorliegenden Entscheid relevanten gesellschaftlichen Kräfte.

Diskussion

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?

Die Diskursethik passt als pragmatischer Ansatz gut in unsere säkulare und zunehmend multikulturelle Zeit. Entscheidend für den Erfolg des Ansatzes ist der Einbezug von Repräsentanten aller von einer ethischen Fragestellung Betroffenen (Stakeholder). Zudem müssen alle Stakeholder bereit sein, an einem solchen Prozess konstruktiv mitzuarbeiten. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, ist der Ansatz nicht praktikabel (siehe dazu auch » Herausforderung durch China).

Wo liegen die Herausforderungen?

Die Ergebnisse einer Ethikkommission oder eines vergleichbaren Ansatzes brauchen Zeit und hängen vom Teilnehmerkreis bzw. den repräsentierten Machtverhältnissen ab. Zudem spielen in einem solchen Gremium immer auch politische und gruppendynamische Prozesse eine Rolle. In einzelnen konkreten Themengebieten, wie z.B. im Gesundheitswesen, hat sich das Instrument jedoch  bewährt. Ethikkommissionen sind ein guter und pragmatischer Ansatz zur Entscheidfindung in ethisch schwierigen Situationen. 

Ein ethisches Urteil auf der Basis der eigenen Urteilskraft und des eigenen Gewissens kann den einzelnen Teilnehmern aber auch der diskursethische Ansatz nicht abnehmen. Haben die Teilnehmer eines ethischen Diskurses nicht eine gewisse geistig-moralische Reife, sind auch keine überzeugenden Ergebnisse eines solchen Diskurses zu erwarten.

Beispiele Dilemmasituationen

Flugzeugabschuss

Bis im oben stehenden Beispiel eine Ethikkommission getagt hat, ist das Flugzeug schon lange abgestürzt. Die Methode eignet sich also eher für die Schaffung von ethischen Leitlinien als für akute Entscheidsituationen. Die in einem ethischen Diskurs entwickelten Leitlinien können jedoch im Falle einer solch schwierigen Situation die Entscheidfindung wesentlich erleichtern. Sie könnten z.B. festlegen, ob überhaupt und wenn ja, unter welchen Bedingungen ein Flugzeug abgeschossen werden dürfte, wer dies zu entscheiden hätte und wer den Abschuss vornehmen müsste. Im vorliegenden Fall dürfte dies sehr heikel sein, denn Leitlinien können nie jede mögliche Situation antizipieren. Es bleibt immer ein erheblicher Ermessensspielraum, zumal in einer Situation, wo de facto jede Sekunde zählt.

Covid-19 Pandemie

Das System der Konkordanzdemokratie

Im Normalfall bietet das schweizerische politische System der Konkordanzdemokratie bereits eine gute Basis für Entscheide, die den Ansprüchen an die Diskursethik genügen. Das System ist allerdings schwerfällig, zeitintensiv und bedingt normalerweise die (physische) Präsenz der Parlamentarier in den Sessionen der Eidgenössischen Räte. Im Fall der Covid-19 Pandemie waren einerseits schnelle Entscheide gefragt, andererseits waren Versammlungen der Räte zu Beginn der Pandemie nicht möglich. Der Bundesrat entschied deshalb verschiedene Massnahmen per Dekret und berief sich dabei auf Notrecht. Zudem liess er sich bei seinen Entscheiden von Experten beraten.

Einbezug von Experten

Im Rahmen der Bewältigung der Covid-19 Pandemie und deren Folgen wurde schliesslich die » Swiss National COVID-19 Science Task Force aus zehn Expertengruppen gebildet. Diese hatte die Funktion eines nationalen wissenschaftlichen Beratungsgremiums für politische Entscheidträger im Kontext der Covid-19-Pandemie. Die Bildung der Task Force war sicher sinnvoll, nur kann ein solches Gremium keine ausreichende politische Legitimation für weitreichende politische Entscheide für sich beanspruchen.

Idee des 'Krisenrats für Notlagen'

Die in der NZZ vom 25.05.2020 präsentierte Idee des Ökonomen Bruno S. Frey zur Schaffung eines unabhängigen und vom Volk direkt gewählten 'Krisenrats für Notlagen' wäre deshalb sicher prüfenswert. Frey schlägt vor, dass ein solcher Krisenrat im Fall der Anwendung von Notrecht automatisch zum Einsatz kommt und die Interessen des Volks vertritt, indem er Notmassnahmen der Regierung prüft, Alternativen diskutiert und die Exekutive kontrolliert. Im Fall von Covid-19 hätte ein solcher Krisenrat die Situation vermutlich aus einer umfassenderen Perspektive betrachtet und den Einfluss der zahlreichen Gesundheitsexperten etwas relativiert. Damit ein solcher Krisenrat jedoch den Ansprüchen der Diskursethik genügt, müsste durch seine Zusammensetzung eine ausreichende Repräsentation der verschiedenen Interessen in der Gesellschaft (Stakeholder) in einem ausgeglichen Masse gewährleistet werden. Zudem müssten seine Zusammensetzung, seine Kompetenzen, die Wahl der Mitglieder sowie das Zusammenspiel mit Exekutive und Legislative rechtlich klar geregelt und vom Volk gutgeheissen werden.

Einbezug der Bürger

Rund ein Drittel der stimmberechtigten Bevölkerung hat offensichtlich ein tiefes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft sowie dem Staat und seinen Organe entwickelt. Diese Menschen fühlen sich zurzeit nicht in den Diskurs eingebunden und kapseln sich in ihrer eigenen Blase ab. Dies ist eine ungute Entwicklung, denn die direkte Demokratie lebt davon, dass alle Bürger in den politischen Diskurs einbezogen werden, auch wenn ihre Ängste und Argumente von der Mehrheit nicht geteilt werden.

"Die Entscheide müssen in der Schweiz extrem breit abgestützt sein. Bundesrat Alain Berset muss seine sechs Kolleginnen und Kollegen von einem Vorschlag überzeugen und es gibt 1000 Interessen, die er berücksichtigen muss. Da ist es faktisch unmöglich, einen Konsens zu finden. Aber aus gesellschaftstheoretischer Sicht ist es recht genial: Werden Entscheide breit abgestützt gefällt, ist das für den Zusammenhalt der Gesellschaft das Beste. Wenn die Menschen mitreden können, ist die Gefahr kleiner, dass sie sich abkapseln. (...) Lassen wir nicht alle Menschen mitreden, kapseln sie sich ab" (Politologe Marc Bühlmann in » Watson am 02.01.2022).

Es müsste deshalb ein beratendes Gremium geben, wo auch die kritischen Stimmen einbezogen sind. Das bedeutet noch nicht, dass deren Argumente unkritisch und unkommentiert an die Öffentlichkeit gelangen. Sie sollten von den Medien allerdings auch nicht verächtlich gemacht sondern (u.a. mittels Faktenchecks) sachlich und nüchtern kommentiert werden.

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Version vom 10. April 2023

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